Ein Bericht für die Waldeck-Zeitung von Hotte.
In der Mitte des 19ten Jahrhunderts wurden ganze Dörfer im Hunsrück von Hungersnot und Armut geplagt. Die Hälfte der Bevölkerung wanderte ins ferne Brasilien aus. Die andere Hälfte träumte davon. Das erzählt Edgar Reitz mit seinem neuen Kinofilm DIE ANDERE HEIMAT. Im Zentrum dieser bewegenden Familien- und Liebesgeschichte stehen zwei Brüder, die sich vor die existentielle Frage gestellt sehen: Gehen oder bleiben?
Im letzten Jahr wurde der Stoff für eine aufwändige Kinoproduktion im Hunsrück und an der Mosel gedreht. Dafür wurde der Ortskern von Gehlweiler detail-genau in ein Dorf um 1850 verwandelt. Alleine diese Kulisse wurde zwischen den Dreharbeiten von rund 20.000 filmbegeisterten Leuten aus nah und fern besichtigt. Aus dem Hunsrück haben rund 500 Menschen als Schauspieler, Komparsen, Berater und Partner beim Film mitgewirkt.
Nun ist es soweit! Am 28. September, zwei Tage bevor in München weitere Premieren geplant sind, findet die Welturaufführung des fast vierstündigen (!) Werkes in Simmern statt. Dazu werden rund 1600 Menschen erwartet. Wir sind alle sehr gespannt.
Gerne wollte auch ich in diesem Film mitspielen. Ich bin schon lange sehr angetan von dem wohl wichtigsten Kulturhistorischen Ereignis im Hunsrück der letzten 30 Jahre: der HEIMAT-Trilogie. Alleine die eindrucksvollen Bilder von HEIMAT 1 haben in den Achtziger Jahren 25 Millionen Menschen gesehen und den Hunsrück in der ganzen Welt bekannt gemacht. Für mich allerdings war es zu allererst die feinfühlige Art, mit der Edgar Reitz zu Werke geht, die ich mal hautnah miterleben wollte.
Es sah anfangs nicht gut aus mit einer Rolle für mich. Ich passte nicht ins Beute-Schema für die Darstellung Hunsrücker Hungerjahre und auswanderungswilliger Menschen. Die müssen nämlich sein: jung und vor allen Dingen dünn!
Ich half aber wo ich konnte. Da ich bekanntlich bei meinen Theater-Projekten immer wieder mit jungen Leuten arbeite, konnte ich Edgar Reitz etliche talentierte Kerle und Mädels zuführen, von denen dann auch einige genommen wurden. Letztendlich habe ich doch noch den wohl einzigen Mann gespielt, der dick sein darf. Ich spielte den Verwalter des Barons. Ich durfte die Dorfkirmes gegen mich aufbringen, weil ich den Leuten den „Bannwein“ unterjubeln sollte. Ein Wein der schlecht schmeckt und teuer ist. Der aber aufgrund uralter Privilegien meines Barons exklusiv auf jeder Kirmes vom Volk gesoffen werden muss. Das provoziert natürlich. Und so trete ich eine große Massenschlägerei los, wobei meine Pferdeknechte (Tiroler Stuntmen) mit rund 30 Kirmeskerlen wild drauf los keilen. Pferde gehen durch. Fässer fliegen vom Wagen. Wein spritzt durch die Gegend. Da war richtig was los. Ganz nach meinem Geschmack! Zwei Nächte haben wir daran gedreht.
Ob das im Film zu sehen sein wird? Ich weiß es nicht. Es wird ja meistens doppelt so viel Material gedreht als letztendlich zum Ergebnis geschnitten wird. Einer der jungen Kerle, die ich dem Edgar Reitz zur Bewerbung schickte, war der 23-jährige Jan Schneider aus Kastellaun. Jan ist Medizinstudent und theaterbegeistert. Er kommt übrigens regelmäßig mit dem BDP auf die Waldeck. Jan sagte mir: „Ein weiterer HEIMAT-Film? Das tue ich mir nicht an. Was soll ich denn da? Vor zehn Jahren hat der Edgar Reitz für HEIMAT 3 zwei lange Tage mit mir, dem 12-jährigen Jungen, gedreht. Und was kam schlussendlich davon im Film? Nix!! Ich war sehr enttäuscht, Hotte. Da gehe ich nicht mehr hin!“. Schließlich konnte ich Jan doch überreden. Er ging hin. Und diesmal kann er hundertprozentig davon ausgehen, dass er im Film vorkommt. Er spielt nämlich die Hauptrolle.
Preis der Deutschen Filmkritik: Die andere Heimat als bester Film 2013 ausgezeichnet!
Gestern Abend wurde im Rahmen der Berlinale der Preis der Deutschen Filmkritik verliehen. Die andere Heimat war in sechs Kategorien nominiert (siehe Eintrag vom 13.1. auf der News-Seite von http://www.heimat123.de). Schließlich konnte der Film in zwei Kategorien den Preis der deutschen Filmkritik gewinnen: DaH wurde als bester Film des Jahres 2013 ausgezeichnet, und zudem Gernot Roll für die beste Kameraarbeit. Die beiden ebenfalls nominierten Hauptdarsteller Jan Dieter Schneider und Antonia Bill gingen leider leer aus, allerdings darf doch allein die Nominierung bereits als eine große Ehre und Würdigung angesehen werden.
In der Begründung der Jury heißt es:
„Dem Regisseur ist es mit seinem Film gelungen, eine historische Epoche ganz nah an unsere Gegenwart heranzuholen. Wir fühlen in diesem Epos mit den Protagonisten im Hunsrück des neunzehnten Jahrhunderts, als wären sie unsere Zeitgenossen. Der Film verbindet visuelle Klarheit, erzählerische Dichte und epische Breite in einer Weise, die im deutschen Kino einmalig ist.“ (Quelle: vdfk Pressedossier)
„Andere Heimat“ kommt ins Haus
Kinofilm DVD beeindruckt als Zeitdokument
M Rhein-Hunsrück. Edgar Reitz hat mit „Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht“ viele Preise gewonnen – nun ist das Meisterstück des aus Morbach stammenden Regisseurs auch für Zuhause erhältlich. Das Unternehmen Concorde Home Entertainment hat den Kinofilm als DVD veröffentlicht.
Erst einmal mag es etwas anders wirken, wenn die „Andere Heimat“ plötzlich im heimischen Wohnzimmer flimmert. Es ist ein Film, der irgendwie ins Kino gehört, denn auf der großen Leinwand gelangen die meisterhaften Bilder von Kameramann Gernot Roll und die höchst akribische Arbeit von Edgar Reitz und seinem Team besonders prächtig zur Entfaltung. Gerade wer keine Heimkino-Anlage sein Eigen nennt, mag das große Ganze des Kinos und die Dimension der Leinwand etwas vermissen. Doch das Entscheidende ist ja der Stoff des Films, den Reitz mit seinen Hauptschauspielern Jan Schneider, Antonia Bill, Maximilian Scheidt und Marita Breuer so dicht verwoben hat, dass sich der Zuschauer in die Mitte des 19. Jahrhunderts und damit in eine arme, von Not geprägte Hunsrücker Zeit versetzt fühlt. So dauert es selbst beim ältesten Fernsehgerät zu Hause auf dem Sofa nur Minuten, bis der Reitzsche Reiz den Zuseher gepackt hat – „Die andere Heimat“ zieht in ihren Bann.
Neben dem einzigartigen Film, der als geschichtliches Dokument der Zeit um 1850 in keinem jungen wie alten Hunsrücker Haushalt fehlen sollte, gehört zur DVD eine Menge Bonusmaterial, das im Kino nicht zu sehen war. Im Gespräch mit dem fundierten Medienwissenschaftler Thomas Koebner entfaltet der Regisseur seine Sicht der Dinge auf seine Arbeit und das neueste Werk. Darüber hinaus gibt es weitere Interviews mit den Darstellern sowie jede Menge Inhalte rund um Reitz und die Premiere in München, die kurz nach der deutschen Uraufführung in Simmern stattgefunden hat. Auch die Trailer, also die kurzen Werbefilme, zur „Anderen Heimat“ geraten durch die DVD nicht in Vergessenheit. Ein dazugehörendes 40-seitiges Booklet ist eine ergänzende Hinführung zum Film – gespickt mit Vokabularien aus dem Hunsrück und der im Film von Hauptdarsteller Jan Schneider erarbeiteten Indianersprache.
Reitz selbst ermutigt den Zuseher in einem kurzen Einführungsstatement im DVD-Beiheft dazu, den Film zum Innehalten zu nutzen und „für ein paar Stunden den anderen Rhythmus zu erfahren, der unsere Vorfahren zum Überleben befähigte und möglicherweise immer noch der Rhythmus unserer Herzen ist“. In dieser Hinsicht hat die DVD zum Film eine überaus große Berechtigung, in den Filmregalen unserer Gegenwart Platz zu finden. Denn dort steht meist eher wenig, was den Rhythmus verlangsamt und zum Nachdenken und Innehalten anregt. Insgesamt sind es viereinhalb Stunden, die durch die DVD und das beigefügte Bonusmaterial im Kopf haften bleiben, von der fröhlichen Kirmes in Schabbach bis zu erschreckenden Missernten, von tiefer Trauer über die in der Auswanderung steckende Hoffnung bis hin zu den unvergänglichen Bildern Gernot Rolls.
Volker Boch
Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht, Concorde Entertainment, EAN-Nummer: 4010324200822, Preis: 14,99 Euro
Rhein-Hunsrück-Zeitung vom Donnerstag, 14. August 2014, Seite 14
Alle Infos zur HEIMAT-Filmreihe auf http://www.Heimat-Fanpage.de